Experimentalkolloquium: Hermeneutik diesseits und jenseits von Schrift. Dekontextualisierende Lektüren musikalischer Scores
mit und von Ariane Jeßulat
“Mit Buchstaben und mit Worten kann man nichts sagen. Manchmal schreibe ich irgendeinen griechischen Buchstaben, ein Theta oder Omega, und indem ich die Feder ein klein wenig drehe, schwänzelt der Buchstabe und ist ein Fisch und erinnert in einer Sekunde an alle Bäche und Ströme der Welt, an alles Kühle und Feuchte, an den Ozean Homers und an das Wasser, auf dem Petrus wandelte, oder der Buchstabe wird ein Vogel, stellt den Schwanz, sträubt die Federn, bläst sich auf, lacht, fliegt davon. – Nun, Narziß, du hältst wohl nicht viel von solchen Buchstaben? Aber ich sage dir: Mit ihnen schrieb Gott die Welt.“
„Ich halte viel von ihnen“, sagte Narziß traurig. „Es sind Zauberbuchstaben, man kann alle Dämonen mit ihnen beschwören. Nur freilich zum Betreiben der Wissenschaften sind sie ungeeignet. Der Geist liebt das Feste, Gestaltete, er will sich auf seine Zeichen verlassen können, er liebt das Seiende, nicht das Werdende, das Wirkliche und nicht das Mögliche. Er duldet nicht, dass ein Omega eine Schlange oder ein Vogel werde. In der Natur kann der Geist nicht leben, nur gegen sie, nur als ihr Gegenspiel. Glaubst du mir jetzt, Goldmund, daß du nie ein Gelehrter sein wirst?“
Experimentalkolloquium Hermeneutik diesseits und jenseits von Schrift. Dekontextualisierende Lektüren musikalischer Scores
Musikalische Notationen funktionieren gemeinhin auf der Basis von Verabredungen, von Codes: Sichtbare Zeichen werden in performative Akte übersetzt.
Musikalische Notationen sind bildgebend: Sie implizieren Verfahren, die etwas, das kein Bild ist, ein Bild geben.[1]
Die Diskussionen der drei eröffnenden Seminarsitzungen des Graduiertenkollegs Normativität Kritik Wandel haben ausgehend von einschlägigen Texten Wittgensteins, Gadamers, Derridas und Butlers hermeneutische Problemstellungen wieder-gelesen und die den Texten impliziten Konzepte von Normativität analysiert. Die jeweilige Rolle des Kontexts im Verstehensprozess bot dabei die häufigsten Anlässe zu argumentativer Auseinandersetzung.
In der Lektüre musikalischer Scores verschiedenster historischer und stilistischer Herkunft werden nun die in den drei Sitzungen diskutierten hermeneutischen Konstellationen erprobt: Sind musikalische Notationen Maschinen,[2] subversive Körper,[3] Ereignisse,[4] lassen sie Rückschlüsse auf Verstehenshorizonte[5] zu und zwar auch oder gerade dann, wenn Kontext und Intentionalität „radikal zerstört“[6] sind?
Das Hesse-Zitat scheint dekonstruierende Ideen, vielleicht sogar die szenische Ausstattung von Helène Cixous´ Théorie de fourmis[7] vorwegzunehmen. Mit der fabelartigen, vielleicht ironischen, Gegenüberstellung von Kunst und Wissenschaft spiegelt es Fragen von Normativität am Möglichkeitsraum von Schrift und Schreiben und stellt eine Binarität her, die es selbst widerlegt.
Das Experiment, musikalische Scores um des Lesens willen zu lesen, wird weniger Fragen beantworten als die Teilnehmenden vor allem mit dem Rest konfrontieren, der einer Auflösung in Bedeutung widersteht, aber darum nicht weniger normativ wirksam ist, ein Rest, der sich auch nicht durch Kenntnis musikalischer Zeichensysteme, Fachsprachen und anderer Formen fachlicher Episteme auflösen ließe.
Gerade in neueren Scores wird mit Dekontextualisierungen bewusst gespielt. Nicht selten kann zudem bei den Autor*innen hermeneutische Informiertheit angenommen werden.
Das Experimentalkolloquium bietet Gelegenheiten, modellhaft nachzuspielen, wie komplexe Intentionalitäten und synästhetische Möglichkeitsräume bereits Akte künstlerischer Praxis sind, und dabei möglicherweise zu erfahren, auf welche Weise Scores performativ sind.
Literatur:
Judith Butler, Gender Trouble, New York und London 1990.
Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 1988.
Julia Freund, „Musikalische Schrift und männliche Körperbilder in Sylvano Bussottis Oper Lorenzaccio“, Vortrag gehalten im Rahmen der Arbeitstagung der Fachgruppe Frauen- und Genderstudien der Gesellschaft für Musikforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg vom 11. – 13. 9. 2020.
Hans-Georg Gadamer, GW I, Hermeneutik 1: Wahrheit und Methode, Tübingen 1990.
Annika Haas, „Ihre erste unterbrochene durchgängige Linie. Helène Cixous´ Ameisentheorie, in: Annika Haas, Jonas Hock, Anna Leyrer, Johannes Ungelenk (Hrsg.), Widerständige Theorie. Kritisches Lesen und Schreiben, Berlin 2018.
Sigrid Weigel, Grammatologie der Bilder, Berlin 2015.
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Zweite Auflage, Oxford 1997.
Helène Cixous, „Post-Word“, aus d. Franz. v. Eric Prenowitz, in: Martin McQuillan, Graeme MacDonald, Robin Purves, Stephen Thomson (Hrsg.), Post-Theory. New Directions in Criticism, Edinburgh 1999, S. 209–213.
[1] Weigel 2015, 10.
[2] Wittgenstein 1997, 78.
[3] Butler 1990, 176.
[4] Derrida 1988, 298–99, Freund 2020.
[5] Gadamer 1990.
[6] Derrida 1988, 312.
[7] “Across a path, here is a single-file line of ants. The ants carry burdens on their backs. The child sees the relationship and the resemblance: procession of indigenous porters in the bush and the maquis. One cannot say who resembles whom exactly. There is reciprocity. She herself an isolated ant on the sand, but not forever: a line of porters is formed in the paths of her dream: it is her first discontinuous continuous line. The words move, take turns, go around each other, climb.
It is her first theory.” Cixous 1999, 211–212. S. hierzu grundlegend Haas 2018.